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Sabria, die sich derzeit mit ihrem Sohn eine dreckige Wohnung mit einem weiteren syrischen Flüchtling teilt (Photo: Behzad Yaghmaian)

Übersetzung êzîdîPress aus „The oldest refugee in the world and the tale of our colletive failures„, erschienen in: EnetEnglish, 13.02.2014

Ein syrischer Kriegsflüchtling steckt in Griechenland fest, Sabria (107) möchte einfach in Anwesenheit ihrer Familie aus Deutschland sterben.

Die 1907 geborene Sabria, die nun in Athen feststeckt, erlebte die letzten Jahre des Osmanischen Reiches, den ersten Weltkrieg, das Französische Mandat, die Herrschaft der Baath-Partei und nun den syrischen Bürgerkrieg.

„Ich war mir letzte Nacht nicht sicher, ob ich den Morgen noch erleben würde“, erzählt Sabria Khalaf, eine 107 jährige Flüchtling aus Syrien mir in Athen, im Januar. Sie ist der älteste Flüchtling der Welt. Ihre Geschichte ist eine Mischung aus Tragödien der Kriege und Sektierertum, in einer Welt, die mit der Zahl der zunehmenden Flüchtlingen überfordert ist.

Ich traf Sabria in einem heruntergekommenen Gebäude im Zentrum von Athen. Ich verbeugte mich vor ihr. Mit ihrer zerbrechlichen Stimme dankte sie mir für meinen Besuch. Sie legte ihre Hände auf ihre Augen, danach auf ihre Stirn und bat Gott, mich zu beschützen.

Sabria ist gebrechlich und müde geworden durch ihr hohes Alter und die lange, qualvolle Reise, die sie in diese fremde Stadt geführt hat. Sie landete zufällig in Athen und kennt die Welt um sie herum nicht. „Ich würde ihnen Tee machen wenn es mir besser ginge“, entschuldigt sie sich.

Sabria ist eine êzîdîsche Kurdin. Geboren im Jahr 1907, erlebte sie die letzten Jahre des Osmanischen Reiches, den ersten Weltkrieg, das Mandat der Franzosen, die Herrschaft der Baath-Partei und viele regionale Konflikte.

Sie wollte ihren Geburtsort nicht verlassen, bis der jüngste Bürgerkrieg entfachte und islamistische Kräfte einsickerten. „Wir haben noch nie so viel Gewalt erfahren“, erzählt Sabrias Sohn über das Chaos, das durch die islamistischen Krieger geschaffen wurde. Sie kamen barfuß und trugen Schlüssel zum Paradies um ihren Hals, erzählt er mir. „Wir wollen keine Schuhe tragen, wenn wir den Propheten treffen“, erklärten die Islamisten den Einheimischen.

Die Islamisten kämpfen gegen die kurdischen Kräfte und behandeln die Zivilisten brutal. Viele Einheimische flüchteten in andere Regionen des Landes. Nach all diesen Jahren war Sabrias Zuhause nicht mehr sicher.

Sabrias Großfamilie, zwei verbliebene Töchter und viele Enkel und Ur-Enkel leben bereits seit mehreren Jahren in Deutschland. Sie wanderten aus wirtschaftlichen Gründen aus. Ihr Sohn blieb zurück, um sich um seine gealterte Mutter zu kümmern. Nun, als da Bürgerkrieg tobt, musste Sabria ihr Zuhause verlassen. In der Hoffnung wieder mit ihrer Familie aus Deutschland vereint zu sein, schlug sie den Weg einer ungewissen Reise ein.

In der Türkei war ihr erster Stop. Nach Monaten in den Migrantenghettos in Istanbul, vereinbarte sie mit einem Schmuggler ihre Flucht über das Mittelmeer nach Italien.

Sie reiste mit rund 90 weiteren Migranten aus Syrien, Afghanistan und Afrika. Der Schmuggler teilte die Menschen in Gruppen auf und hielt sie in drei abgesperrten Räumen im Unterdeck fest. Sabria und ihr Sohn waren in dem Raum, in dem die Kraftstoffbehälter aufbewahrt wurden.

Sie reisten drei Tage im dem rauen Gewässer. Hohe Wellen schaukelten das Boot hin und her, Dinge wurden umher geworfen, erzählt mir Sabrias Sohn, während er seine Hände wellenartige auf und ab bewegt. Wasser drang in den Raum, überall verteilte sich der Kraftstoff.

„Ich war vom Kraftstoff überdeckt worden, ich verlor das Bewusstsein“, erinnert sich Sabria.

Das Boot war nicht gemacht, um nach Italien zu reisen. Es steckte in einem Sturm unweit von Athen fest. Ein afghanischer Flüchtling, der mit Sabria im selben Raum war, brach die Tür auf und entkam. Er hielt dem Kapitän ein Messer an den Hals und zwang ihn, Hilfe zu rufen. Zwei griechische Boote der Küstenwache kamen und retteten die gestrandeten Flüchtlinge.

Derzeit teilen Sabria und ihr Sohn sich mit einem syrischen Flüchtling eine dreckige Wohnung, der sich auf den Weg in einen anderen EU-Staat machen möchte. Viele weitere syrische Flüchtlinge kamen in den nächsten Monaten in Sabrias Wohnung und in die umliegenden. In Athen angekommen, warten sie, bis ihr Schmuggler die Weiterreise geplant hat.

Zweimal im letzten Jahr war das Gebäude neben Sabrias Wohnung Ziel von Molotowcocktail-Angriffen der Anhänger der faschistischen griechischen Partei „Goldene Morgendämmerung“. Sabrias Sohn ist besorgt.

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„Ich bin krank. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich will in der Anwesenheit meiner Familie sterben. Das ist alles was ich von Gott verlange“. Sabria (Photo: Behzad Yaghmaian)

Sabria hofft nach Deutschland zu entkommen. Sie weiß jedoch nicht wie. Alle Chancen stehen gegen sie. Sie muss Deutschland auf illegalem Weg erreichen. Vor weniger als einen Monat, beschloss Sabria in Athen mit einem gefälschten Ausweis nach Deutschland zu gelangen. Sie wurde erwischt und höflich nach Hause geschickt. Sie ist zu schwach für eine weitere illegale Reise mit dem Boot nach Italien oder um zu Fuß an die serbische Grenze zu gelangen, um von dort aus die Reise fortzusetzen, so wie es viele weitere syrische Flüchtlinge machen.

Sabria hat Anspruch auf ein Visum zur Familienzusammenführung in Deutschland. Jedoch ist dies keine einfache, schnelle Angelegenheit. Sabrias hohes Alter und die schlechten Lebensbedingungen in Griechenland könnten ihre Chance auf eine legale Familienzusammenführung scheitern lassen. Das EU-Recht scheint nicht flexibel genug zu sein, um in Fällen wie dem von Sabria schnell zu handeln. Sie wird höchstwahrscheinlich in Athen sterben.

„Ich bin krank. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich will in der Anwesenheit meiner Familie sterben. Das ist alles was ich von Gott verlange“, sagt sie mir. Sie ist auf dem Weg einen Ort zu suchen, an dem sie sterben kann. Ihre Geschichte ist eine unglaubliche griechische Tragödie.

Sabria ist das Gesicht unseres kollektiven menschlichen Versagens.