Shemdin Qasim trauert; 15 Angehörige sind von der Terrormiliz IS verschleppt worden, drei wurden vor seinen Augen getötet
Shemdin Qasim trauert; 15 Angehörige sind von der Terrormiliz IS verschleppt worden, drei wurden vor seinen Augen getötet

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[S]harya. Nach einer Odyssee sitzt Shemdin Qasim Yusuf mit seiner über 90 jährigen Mutter sowie seiner Ehefrau und drei Kindern in einem Flüchtlingslager in Sharya – nur mit viel Glück konnten sie aus den Fängen der Terroristen der Miliz „Islamischer Staat“ (IS) flüchten. Die selbsternannten Gotteskrieger hatten einen Großteil seiner Familie und ihn gefangen gehalten. Doch die Familie ist unvollständig – 15 Angehörige befinden sich bis heute in IS-Gefangenschaft, drei weitere töteten die Terroristen vor Shemdin Qasims Augen, darunter zwei seiner Kinder und einen Neffen. Über das Schicksal seiner Familie hat er mit dem êzîdîschen Aktivisten und ÊP-Mitwirkenden Kheiri Alo Hiko gesprochen.

Odyssee der Familie Qasim in Shingal
Odyssee der Familie Qasim in Shingal

Als am 3. August die Terrormiliz „Islamischer Staat“ die Region Shingal im Nord-Irak überfällt und die dort stationierten Peshmerga-Soldaten ohne Widerstand flüchten, begibt sich die Familie von Shemdin Qasim umgehend von Khansor in das Shingal-Gebirge. Auch die Familie seines Bruders Sabri (43) sucht im Gebirge Schutz. Einen Tag und eine Nacht harren sie dort aus, ehe sein Bruder einen Anruf erhält. Am Telefon wird diesem dazu geraten, einen Fluchtversuch zu wagen, „der Weg ist frei“, hieß es. Trotz aller Bedenken macht sich die Familie auf den Weg, über die Gemeinde Dugurê versuchen sie in den Norden zu flüchten.

„Am 4. August stiegen wir vom Gebirge herab, zwischen 11:30 Uhr und 12 Uhr erreichten wir dann Dugurê. Doch die IS-Terroristen hatten sich bereits im Dorf verschanzt und umzingelten uns mit drei Fahrzeugen. Sie nahmen uns gefangen, schlugen uns und verschleppten uns von Dugurê aus nach Sinunê“, erzählt Shemdin Qasim.

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Von Sinunê aus bringt man sie erneut nach Khanasor. Etwa 50 IS-Terroristen versammeln sich und drängen die gefangenen Êzîden dazu, den Islam anzunehmen. Darunter sowohl ausländische IS-Kämpfer als auch ehemalige arabische Nachbarn der Familie Qasim: „Es waren mehr als 50, einige mit Bart, einige ohne. Die ohne Bart waren Araber der Region, die mit Bart Fremde.“

Von IS-Terroristen in Shingal getötet: Ayman Shemdin wurde 32 Jahre alt.
Von IS-Terroristen in Shingal getötet: Ayman Shemdin wurde 32 Jahre alt.

Etwa zwei Stunden werden sie in Khanasor in Reih und Glied aufgestellt, bis die IS-Terroristen die Nachricht erreicht, ein Kampfhelikopter sei auf dem Weg. Hektisch schafft die Terrormiliz mehrere Fahrzeuge sowie Kleinlastwagen herbei, um die Êzîden darauf zu verladen.

„Bis zu 100 Fahrzeuge waren in Khanasor, auf die man uns dann verteilte. Auf jeden Kleinlastwagen wurden etwa 12 Personen verladen. […] Sie selektierten die Frauen von den Männern. Junge Frauen, Kinder und Jugendliche wurden von  Männern und Burschen getrennt, und anschließend in der Reihe aufgestellt. Mit Gewehren marschierten sie hinter uns, wir wussten nicht, ob sie uns nun erschießen werden oder was mit den Frauen geschehen wird.  Ich schätze, sie hielten uns für vier Stunden unter der Hitze fest. Nach all den Stunden waren unsere Münder trocken, wir drohten zu ersticken, vor Durst und Hunger zu sterben, durch ihre Schläge getötet zu werden […].“

Die Terroristen trennen die Familien voneinander, sortieren Frauen und Mädchen sowie die Männer aus und bringen sie schließlich wieder, aus Furcht vor Luftangriffen, in die Stadt Shingal. Dort angekommen, werden die Êzîden umgehend zur örtlichen Moschee gebracht. Hier will man sie zu der Konvertierung zum Islam zwingen. Unerwartet, sowohl für die Êzîden als auch für die IS-Terroristen, greift jedoch ein Helikopter die Moschee an und zerstört sie weitestgehend. Die IS-Terroristen flüchten, die Êzîden steigen von den Fahrzeugen. Der Helikopter lässt sich herab und fordert die Êzîden mit Handzeichen dazu auf, zu fliehen.

Sawan Sabri Qasim (3), von IS-Terroristen in Shingal getötet
Sawan Sabri Qasim (3), von IS-Terroristen in Shingal getötet

„Der Helikopter senkte sich und gab Handzeichen, welche uns zur Flucht bewegen sollten. Er kreiste über uns und deutete immer wieder an, dass wir fliehen sollen“, erzählt Shemdin Qasim. Zusammen mit seiner Mutter und seinem Sohn Sahed gelingt ihnen die Flucht, zur gleichen Zeit machen sich die IS-Terroristen davon. Mit einem Fahrzeug können auch die Ehefrau von Shemdin Qasim und zwei seiner Kinder nach Wardiya, im Westen von Shingal-Stadt, flüchten. Dort verstecken sie sich im Haus des Dorfvorstehers. Kurz darauf bricht die Familie zusammen mit dutzend weiteren Êzîden zu Fuß in Richtung Gebirge auf.

Die IS-Terroristen mobilisieren unterdessen erneut und nehmen, kurz nachdem der Kampfhubschrauber die Region verlässt, die Verfolgung der Êzîden auf. Es gelingt ihnen, eine Vielzahl der Flüchtlinge erneut zu umzingeln und festzunehmen. Die IS-Terroristen eröffnen das Feuer auf die Flüchtenden, die sie sich in das Gebirge zu retten versuchen. Mit mehreren bewaffneten Fahrzeugen beschießen sie die Êzîden. Der Familie von Shemdin Qasim gelingt es gerade noch so, das Gebirge zu erreichen. „Auf jene Flüchtlinge, die sie nicht mehr einholen konnten, haben sie mit Maschinengewehren das Feuer eröffnet und getötet. Alle auf einem Haufen“, erzählt Shemdin Qasim weiter.

Shemdin Qasim zufolge sind dabei über 100 Êzîden getötet worden, darunter auch Kinder. Seine Tochter Sheriban (34), sein Sohn Ayman (32) sowie sein Neffe Saghwan (3) werden ebenfalls vor seinen Augen getötet. Der Rest seiner Familie wird gefangengenommen, die IS-Terroristen verschleppen sie. Von Shingal geht es in das berüchtigte Gefängnis nach Badusch, im Norden von Mosul.

Von IS-Terroristen auf der flucht getötet; Sheriban Shemdin wurde 34 Jahre alt
Von IS-Terroristen auf der flucht getötet; Sheriban Shemdin wurde 34 Jahre alt

Naima (19) gelingt es vom Gefängnis in Badusch aus, ihren Vater Shemdin Qasim anzurufen. Shemdin Qasim hält das Bild von Naima in die Kamera: „Das ist meine Tochter, Naima. Naima sagte mir: «Vater, verzeih mir bitte, aber wenn sie mich anfassen, werde ich mich umbringen». Das sagte sie mir am Telefon, dass sie sich umbringen wird, wenn sie ihr etwas antun“.

Insgesamt 15 Familienmitglieder befinden sich weiterhin in Gefangenschaft. Über ihr Schicksal weiß bis heute niemand Bescheid. Seine Tochter Miha (6) sowie seine drei Söhne Adnan (23), Kheri (21) und Salih (6) wurden ebenfalls von der Terromiliz verschleppt. Die gesamte Familie seines Bruders befindet sich in IS-Gefangenschaft; Vater Sabri Qasim Yusuf (42), die Mutter Sabiah Silêman Silo (43), die hochschwangere ergriffen wurde und zwei Wochen nach ihrer Gefangennahme eine Tochter zu Welt brachte, sowie die Töchter Hayam (18), Diana (16), Nadia (15), Dalia (13), Madlen (9), Salima (1) ebenso die Söhne Nadji (11) und Sawan (4).

Geblieben sind Shemdin Qasim teilweise nur alte Bilder seiner Kinder. Ob er seinen Bruder, seine Töchter, Söhne, Neffen und Nichten jemals wiedersehen wird, kann niemand voraussagen.