Sherfedin. Im Irak haben sich die kurdische und irakische Führung offenbar zu grundlegenden Fragen der Zukunft der nordirakischen Region Shingal geeinigt. Nach über sechs Jahren politischer und militärischer Konflikte um die Vorherrschaft in der êzîdîschen Region Shingal, scheint der zukünftige Kurs nun festgelegt worden zu sein. Die Region war im August 2014 von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) überrannt und der Kontrolle der flüchtenden irakischen und kurdischen Sicherheitskräften entzogen worden. Nach dem Sieg über den IS folgten teils gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen irakischen, kurdischen und êzîdîschen Milizen über die Kontrolle der umstrittenen êzîdîschen Region.

Einzelne Details des am 9. Oktober geschlossenen Abkommens sind bisher nicht bekannt geworden. In Pressemitteilungen haben die irakische und kurdische Seite jedoch einige Eckpunkte der Vereinbarung bekanntgegeben. In monatelangen Verhandlungen habe man sich mit der kurdischen Führung in Erbil geeinigt, teilte das Büro des irakischen Premierministers Mustafa Al-Kadhim mit. Auch die kurdische Seite zeigte sich mit dem Ergebnis der „historischen“ Verhandlungen zufrieden. Fragen der Sicherheit, der politischen Führung und die Bereitstellung von staatlicher Infrastruktur seien geklärt worden, teilten beide Seiten mit. Noch immer lebt ein Großteil der 2014 aus der Region geflüchteten Êzîden in Flüchtlingslagern. Ihnen soll mit dem Abkommen nun die Rückkehr ermöglicht werden.

Beendigung der Milizen-Präsenz

Zu den wichtigsten Eckpunkten der Vereinbarung gehört die Auflösung beziehungsweise die Beendigung der territorialen Kontrolle von Milizen über weite Teile der Region Shingal. Im Vordergrund stehen hierbei vor allem der militärische Flügel der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und irakische PMU-Milizen. Was jedoch mit den êzîdîschen Widerstandskräften geschehen soll, ist noch nicht bekannt. Hierzu gehören Angehörige der Verteidigungskraft Êzîdxans (HPÊ) unter der Führung von Heydar Shesho, die Widerstandseinheit Shingals (YBŞ) und êzîdîsche Einheiten der PMU-Milizen. Nicht bestätigten Informationen zufolge sollen Angehörige der Einheiten in den künftigen Sicherheitsapparat in Shingal integriert werden. Die Entmachtung der Milizen und Einheiten birgt großes Konfliktpotenzial. Zahlreiche Checkpoints werden ihnen bis heute kontrolliert.

Sicherheitsapparat mit êzîdîschen Angehörigen

Der Sprecher des irakischen Premierministers, Ahmad Talal, teilte mit, dass die generelle Verwaltung und Sicherheit der Region der Autorität der irakischen Zentralregierung obliege. Man werde unter anderem 1.500 junge Êzîden aus den Flüchtlingslagern sowie 1.000 Êzîden, die sich bereits in der Shingal-Region befinden, in die Sicherheitskräfte einbinden. Dazu gehören vor allem Bundespolizei und Grenzschutz. Die 15. irakische Armee-Division werde weiterhin in der Region verbleiben. Ob die êzîdîschen Angehörigen der HPÊ, YBŞ und der PMU-Einheiten in die Armee integriert werden, steht noch offen.

Die Vereinbarung sieht keine Rückkehr der kurdischen Peshmerga-Einheiten in die Region vor.

Neuer Bürgermeister, gemeinsamer Wiederaufbau

Die Verwaltung der Region soll durch einen neu gewählten Bürgermeister geführt werden. Im Anschluss an die Wahl eines neuen Bürgermeisters sollen die weiteren administrativen Posten in der Verwaltung vergeben werden. Ein weiterer Eckpunkt ist der Wiederaufbau der bis heute brach liegenden Region Shingal. Hierfür soll ein aus Vertretern der irakischen Zentralregierung, der kurdischen Autonomiebehörden und Vertretern der Provinzverwaltung Ninawa gegründetes Komitee verantwortlich sein.

Die kurdische Regierung ließ bereits vor Monaten mitteilen, dass man die êzîdîschen Flüchtlingslager schließen werde. Die Vereinbarung wurde auch vor diesem Hintergrund getroffen.

Politisches Mitspracherecht gefordert

Die UN-Mission im Irak, die US-Regierung sowie zahlreiche Politiker und Aktivisten begrüßten die Vereinbarung und äußerten sich zuversichtlich. Êzîdîsche Verantwortliche hingegen begrüßten die generelle Einigung zur Wiederherstellung der Stabilität in der Region zwar, äußerten sich jedoch vor Bekanntwerden der Details zurückhaltend. Zu den Hauptfaktoren, die den Völkermord der IS-Terrormiliz an den Êzîden in Shingal ermöglichten, gehörte unter anderem die politische Entmündigung der Êzîden über ihre Heimatregion. Die Vereinbarung müsse den Êzîden daher vor allem politisches Mitspracherecht einräumen.

Die irakische und kurdische Führung teilten weiterhin mit, die Vereinbarung sei ein erster Schritt zur Implementierung des Artikels 140 der irakischen Verfassung. Dieser sieht vor, dass per Volksentscheid die politische Zugehörigkeit umstrittener Gebiete wie Shingal endgültig entschieden werden soll. Wer die politischen Verhältnisse im Irak kennt, weiß jedoch, dass bis zur Umsetzung des Art. 140 ein weiter Weg liegt.

Hintergrund

Am 3. August 2014 überrannte die IS-Terrormiliz das Hauptsiedlungsgebiet der êzîdîschen Minderheit in der nord-irakischen Region Shingal und verübte einen Völkermord an der Zivilbevölkerung. Etwa 10.000 Êzîden fielen dem Genozid direkt zum Opfer, wie eine erste Studie der renommierten Londoner LSE Universität zeigt. Rund 2,2% der êzîdîschen Bevölkerung wurden der Studie nach getötet oder verschleppt. 400.000 weitere mussten aus ihrer Heimat fliehen. Rund 7.000 hauptsächlich êzîdîsche Frauen und Kinder wurden gefangen genommen, versklavt und systematischer sexueller Gewalt ausgesetzt. Ziel des IS sei es, die „Jesiden als Gruppe zu vernichten“ so UN-Ermittler. Das Europäische Parlament, die UN-Menschenrechtskommission sowie zahlreiche Staaten, darunter die USA, Frankreich und Großbritannien, haben die Verbrechen des IS gegenüber den Êzîden als Völkermord eingestuft. Mit der anhaltenden Gefangenschaft von schätzungsweise 2.500 bis 3.000 Frauen und Kindern handelt es sich um einen bis heute fortgesetzten Völkermord. Auch heute, nach über sechs Jahren, fehlt von diesen jede Spur.