Êzîdîsche Flüchtlingskinder aus Shingal im Flüchtlingslager von Esiya
Êzîdîsche Flüchtlingskinder aus Shingal im Flüchtlingslager von Esiya


Duhok. „Bis hierhin“, sagt Hewas und zeigt dabei mit seiner rechten, äußeren Handkante auf seinen linken Unterarm. „Bis hierhin, bis zu den Knochen. Es reicht, wir sind am Ende“, fährt er fort. Der 26-jährige Êzîde steht im Flüchtlingslager Esiya nahe der kurdischen Stadt Duhok, in dem etwa 18.000 Êzîden aus Shingal Zuflucht gefunden haben. Ihn umgeben Kinder mit abgenutzten Kleidern, zerschlissenen Schuhen, einige davon barfuß.

Seit dem Völkermord durch die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) im August vergangenen Jahres, der mit der Gefangenschaft tausender Frauen und Kinder fortdauert, befindet sich das êzîdîsche Volk in einem Ausnahmezustand. Die Terrormiliz hat Mitten ins Herz der êzîdîschen Seele getroffen – Shingal, das Hauptsiedlungsgebiet der Minderheit im Nordirak. Schutzlos wurde die Zivilbevölkerung von den Schergen der Terrormiliz überrannt, massakriert und verschleppt. Die 8.000 in Shingal und weitere 3.000 in der Region stationierten Peschmerga flüchteten, noch ehe die Zivilbevölkerung ahnte, dass ihnen ein Genozid bevorsteht. Als sie frühmorgens wach werden, sind die Peschmerga längst davongerannt, die schwarze Flagge der Terroristen nähert sich von drei Flanken. Hunderttausende flüchten, Zehntausende suchen im Gebirge Schutz, wo sie schließlich tagelang belagert werden und an Hunger und Durst sterben. Jeder spricht hier hinter vorgehaltener Hand von Verrat – auch treue Anhänger der Demokratischen Partei Kurdistans (kurd. PDK), die für die Katastrophe verantwortlich gemacht wird, weil sie hätte verhindert werden können.

„Sie sind einfach abgehauen. Es war nicht in unserem Willen, sicher nicht. Aber das ändert nun auch nichts mehr. Sie haben nicht nur unsere Leute den Daesh-Terroristen [ISIS; Anm. d. Red.] ausgeliefert, sondern auch unseren Stolz gebrochen“, sagt ein ranghoher êzîdîscher PDK-Funktionär, der eines der großen Büros leitet. Namentlich genannt werden will er nicht. Auch nicht-êzîdîsche PDK-Funktionäre in der Runde nicken und schließen sich der Meinung an, es öffentlich sagen aber traut sich hier niemand. Das käme einer Niederlage gleich.

Überreste einer traditionellen Tracht der Êzîden aus Shingal in der Gemeinde Hardan: hier hat die Terrormiliz über 600 Frauen, Kinder und Mädchen entführt und Hunderte Männer getötet
Überreste einer traditionellen Tracht der Êzîden aus Shingal in der Gemeinde Hardan: hier hat die Terrormiliz über 600 Frauen, Kinder und Mädchen entführt und Hunderte Männer getötet


Hewas führt uns von Flüchtlingslager zu Flüchtlingslager, von Sharya über Esiya nach Khanke, zurück nach Baadrê. An wilden Camps außerhalb der offiziellen Lager vorbei, an Rohbauten, in denen mehrere Familien untergekommen sind. „Wir haben nicht nur unsere Angehörigen verloren, auch unsere gesamte Existenzgrundlage ist zerstört“, sagt ein Mann, der mit drei weiteren Familien in einem dieser Gebäude in Baadrê lebt. Den Boden des Rohbaus hat er selbst betoniert. Seine 15-jährige Nichte war mehrere Monate in Gefangenschaft der IS-Terroristen, wurde vergewaltigt, mehrfach. Ein kleiner Junge, etwa fünf, drängelt sich hinter der Großmutter hervor. Auch er entkam zusammen mit seiner Großmutter aus der IS-Gefangenschaft. Sein Vater wurde in Shingal getötet, seine Mutter gefangengenommen. Alle Last der Familie trägt nun der Onkel.

Wir fahren weiter, in das offizielle Flüchtlingslager von Sharya, gehen durch die endloslangen Zeltreihen. Von Terror zu Terror: Zelt Nr. 1791, Vater und zwei Söhne getötet; Nr. 1793, Mutter in Gefangenschaft, Vater und Sohn getötet; Nr. 1801, mehrere Töchter in Gefangenschaft, ein Sohn getötet; Nr. 1823, vier Waisenkinder. Völkermord.

Êzîdîsche Mutter backt Brot vor ihrem Zelt im Flüchtlingslager von Sharya
Êzîdîsche Mutter backt Brot vor ihrem Zelt im Flüchtlingslager von Sharya


Hewas selbst stammt zwar nicht aus Shingal, musste aber dennoch kurzzeitig flüchten, als die Terroristen drohten auch seine Gemeinde Sheikhan nahe Duhok zu erobern. Und noch immer kann man mit bloßem Auge die Frontlinie von Sheikhan aus erkennen. Rauchwolken über einem Dorf der Shabak-Minderheit, in der die Terrormiliz alles niederbrennt. Nichts als verbrannte Erde soll zurückbleiben, selbst nach der Niederlage.

Rauchwolken über vom IS besetzte Dörfer der Shabak-Minderheit, die die dortige Existenzgrundlage der Menschen in Brand stecken
Rauchwolken über vom IS besetzte Dörfer der Shabak-Minderheit, die die dortige Existenzgrundlage der Menschen in Brand stecken


Der kräftig gebaute, junge Hewas blickt mit ernster Miene zu uns; immer dann, wenn er sieht, unter welchen Zuständen die Êzîden wie alle Flüchtlinge leben müssen. „Hier haben wir keine Zukunft, glaubt mir. Egal, was wir tun, dieses Land ist unser Grab“, erklärt er. Hewas Familie gehört zur Mittelschicht, anders als die meisten Flüchtlinge wird er bald aufbrechen, Richtung Europa. Für eine fünfstellige Summe werden ihn Schmuggler und Schlepper nach Europa schleusen, erzählt er. Nicht über das tödliche Mittelmeer, übers Land. Dafür aber zahlt man den doppelten Preis, wofür die gesamte Familie Geld zusammengelegt hat.

Flüchtlingslager in Baadrê. Wenige Tage zuvor konnte eine fünffache Mutter aus der Gefangenschaft der Terrormiliz fliehen. Alleine, ihre Kinder befinden sich weiterhin in der Gewalt des IS. Wo sie festgehalten werden, weiß auch sie nicht. Ihr Mann wurde in dem Dorf Til Ezer in Shingal getötet. „Ich möchte nichts anderes, als meine Kinder zurück“, sagt sie. Ob sie von dem Programm in Deutschland gehört habe, fragen wir sie. Dass traumatisierte Frauen und Mädchen in Baden-Württemberg psychologisch betreut würden, sie könne sich auch in die Liste eintragen. „Ohne meine Kinder? Ich bleibe hier und warte, solange bis sie wieder bei mir sind“, erwidert sie.

Flüchtlingskinder aus Shingal in einem Rohbau nahe Semel, Duhok.
Flüchtlingskinder aus Shingal in einem Rohbau nahe Semel, Duhok.


Die êzîdîsche Gemeinschaft ist praktisch führungslos in dieser schweren Zeit. Auch die höchsten Vertreter sind machtlos, angesichts der enormen Probleme und Herausforderungen, vor denen sie stehen. Sie haben keinen Plan für die Zukunft, die Gesellschaft ist gespaltener als vermutlich je zuvor. „All jene, die uns verteidigen, uns voranbringen und unterstützen könnten, wollen auswandern. Die Schwachen und Armen bleiben zurück“, klagt ein êzîdîscher Richter, der in der kurdischen Justiz arbeitet. Er gehört zur Oberschicht, zu jener kleinen êzîdîschen Bevölkerungsgruppe, die sich ein sicheres Leben kaufen kann. Aber gleich wie qualifiziert er in seiner Tätigkeit auch ist, Oberrichter wird er nie werden. Dafür müsste er bei Amtseintritt einen Eid auf den Koran ablegen. Für Christen, Êzîden und andere nicht-muslimische Minderheiten unvorstellbar.

Ändern könnte sich das durch die neue Verfassung, die derzeit von einer 21 köpfigen Kommission für die kurdische Autonomieregion ausgearbeitet wird. Kein Êzîdî gehört der Kommission an, erst nach Protesten machte die PDK einen ihrer sieben Sitze frei. Berufen wurde der pensionierte êzîdîsche Richter Nemir, der sich in einer Versammlung mit dem Religiösen Rat der Êzîden in Lalish über eine Diskriminierung beschwert. „Sie schließen mich bewusst aus, drehen mir den Rücken zu und wollen nicht, dass ich mitbestimme“, berichtet Hakim Nemir. Immer wieder hat es verbale Auseinandersetzungen innerhalb der Kommission gegeben, immer musste sich der êzîdîsche Vertreter verteidigen. „Ohne eure Unterstützung werde ich nichts bewirken können“, richtet er in Richtung der êzîdîschen Vertreter aus.

Säugling im Flüchtlingslager von Shariya: Die Eltern flüchteten vor den Schergen des IS aus Shingal in kurdische Region nahe Duhok
Säugling im Flüchtlingslager von Shariya: Die Eltern flüchteten vor den Schergen des IS aus Shingal in kurdische Region nahe Duhok


Ob in der kurdischen Region oder im Rest des Iraks. Geborgen fühlt sich hier kaum ein Êzîde. Trotz des für sie heiligen Landes, auf dessen Boden ihre Heiligtümer stehen, das Lalish-Tal nahe Duhok oder die Halsschlagader der êzîdîschen Geschichte und Kultur Shingal. Für viele steht fest, dass eine Aufgabe der Region Shingal das Ende des Êzîdentums einläutet. Tausende êzîdîsche Kämpfer opfern sich in Shingal täglich, um dies zu verhindern. Die schwertraumatisierten Kriegsopfer aber wollen nur leben, in einem sicheren Land, in dem sie nicht wegen ihrer Religion verfolgt und massakriert werden. Über 5.000 Êzîden hat die Terrormiliz in Shingal getötet, bis zu 7.000 entführt. Und noch immer steht ein Großteil der Region unter der Gewalt der selbsternannten Gotteskrieger.

Die Êzîden waren einst ein großes Volk, mächtig, das über weite und einflussreiche Fürstentümer im gesamten Nahen Osten regierte. Dann kamen Zwangskonversionen und Vernichtungsfeldzüge. Dennoch konnte sich eine der ältesten Religionen bis in die heutige Zeit retten. Der Preis dafür: heute zählt die êzîdîsche Gemeinschaft weniger als eine Million Anhänger, weltweit, auf vier Kontinente verteilt.

Brennender Docht auf einer Mauer des êzîdîschen Heiligtums Lalish: Tempeldiener entzünden täglich 366 Lichter
Brennender Docht auf einer Mauer des êzîdîschen Heiligtums Lalish: Tempeldiener entzünden hier täglich 366 Lichter


Im Kollektivgedächtnis der Êzîden sind alle vergangene Massaker tief eingebrannt. In den vergangenen Jahrzehnten aber begannen sie damit, ihre Geschichte und ihre Traumata aufzuarbeiten, ihre Religion zu verschriftlichen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Bis sie erneut von einem Massaker erschüttert wurden, vom Völkermord in Shingal, dass die Gemeinschaft erneut um Jahre zurückwirft. Tausende êzîdîsche Frauen, Kinder und Mädchen wurden entführt, im 21. Jahrhundert.

„Seit Jahrhunderten, es ist immer dasselbe. Alle fünfzig Jahre ein neues Massaker, es reicht“, sagt Hewas, der sich bereits auf dem Weg nach Europa befindet. So wie Hunderte weitere Êzîden, die monatlich versuchen aus dem Schlachtfeld Irak zu entkommen.

© ÊzîdîPress, 24. Juni 2015