ISISTerrorists
ISIS Terroristen

Raʾs al-ʿAin (Syrien) – Es sind Bilder, die selbst für Verhältnisse der Terroristen Islamischer Staat Irak und Syrien (ISIS) eine neue Dimension an Grausamkeit erkennen lassen. Bilder getöteter Kleinkinder, von Einschussstellen übersäte Leichen. Das jüngste der getöteten Kinder war ein 11 Monate altes Baby. Das grausame Massaker ereignete sich in einem kleinen Dorf nahe der kurdischen Stadt Serêkaniyê (arab. Raʾs al-ʿAin), im äußersten Norden Syriens. Das Blutbad sorgt international für großes Entsetzen, mehrere Demonstrationen in Deutschland, Österreich und weiteren Großstädten haben bzw. werden stattfinden.

Was ist passiert?
Überlebende von Tilêliyê
Überlebende von Tilêliyê

In der Nacht vom 29. Mai 2014 überfallen ISIS Terrorkommandos gegen 3 Uhr Ortszeit, drei Dörfer im Norden Syriens. Es sind Angriffe, die zu einem großen Vorstoßversuch der Islamisten gehören, nachdem sie herbe Verluste gegen die kurdische Verteidigungseinheiten YPG hinnehmen musste. Alle drei Dörfer sind ursprünglich êzîdîsche. Eines dieser Dörfer ist Tilêliyê, das in der Vergangenheit ebenfalls ausschließlich von Êzîden bewohnt war. Als die Terroristen die Dörfer überfallen, rufen sie, dass sie „alle Êzîden töten“ werden, wie uns Bewohner der weiteren Dörfer mitteilten. Sie beginnen auf die Bewohner von Tilêliyê zu schießen, auf Männer, Frauen und Kleinkinder. Am Ende des Massakers sind 15 Menschen tot, unter ihnen 7 Kleinkinder und drei Mütter. Die Terroristen glauben, sie haben die „Ungläubigen“ Êzîden getötet, gegen die sie in der Vergangenheit bereits erbarmungslose Überfälle verübt hatten. Als die Bewohner den Angriff mitbekommen, beginnen sie sich in Sicherheit zu bringen. Ein Kleinkind versteckt sich unter einem Stapel von Decken und Kissen, die Islamisten entdecken und erschießen ihn wenige Momente später eiskalt. Ein 11 Monate altes Baby entreißen sie nach Angaben der Überlebenden aus den Händen der Mutter und erschießen den Säugling vor ihren Augen. Bei den Angriffen auf die weiteren Dörfer töten sie rund 40 weitere Zivilisten.

Gegen 4 Uhr nachts treffen dann Verteidigungseinheiten der kurdischen YPG ein und liefern sich Gefechte mit den Islamisten in allen angegriffenen Dörfern. Sie können Dutzende der Islamisten töten, die sich daraufhin aus den Dörfern zurückziehen. YPG nahe Medien berichten von insgesamt 86 getöteten Islamisten.

Was die Terroristen nicht wussten ist, dass die Êzîden aufgrund des Terrors bereits aus dem Dorf Tilêliyê nach Europa und in die Türkei geflüchtet sind. Inzwischen zogen mehrere arabische Flüchtlingsfamilien in das Dorf, die wegen des Krieges unter anderem aus der umkämpften und fast vollständig zerstörten Stadt Aleppo Zuflucht suchten. Ehemalige êzîdîsche Bewohner des Dorfes Tilêliyê überließen das Dorf den arabischen Familien der Stämme Muradet und Ereba Begara, wie sie auf Nachfrage von êzîdîPress erklären. Auch Salih Muslim, Co-Vorsitzender der kurdischen Partei PYD in Syrien, erklärte gegenüber der türkischen Agentur Hürriyet: „Es waren bekannte êzîdîsche Dörfer. Diese waren aber unbewohnt, sodass Araber aus Aleppo sich dort niedergelassen haben. Sie [die Terroristen; Anm. d. Red.] müssen gedacht haben, dass es sich um Êzîden handelt.“

ISIS Terroristen stürmen Haus
ISIS Terroristen stürmen Haus

Erste Nachrichtenmeldungen, auch unsere, gehen ebenfalls davon aus, dass Êzîden getötet worden sind. So melden etwa Rûdaw, ANF und ANHA, dass Kurden getötet worden seien. Nach weiteren Recherchen von êzîdîPress und Gesprächen mit den ehemaligen Bewohner von Tilêliyê wird klar, dass keine Êzîden, sondern unschuldige arabische Zivilisten die Opfer waren. Die Klarstellung erfolgte unsererseits am selben Tag, dennoch melden am Tag darauf unter anderem internationale Nachrichtenagenturen wie Reuters, TheDailyStar und Spiegel Online, dass Kurden Opfer des Blutbades waren. In Videointerviews verschiedener Sender erklären in den frühen Morgenstunden YPG Angehörige und Bewohner umliegender Dörfer, dass die Opfer jedoch von jenen oben genannten Familien stammen.

ISIS fürchtet um Ruf innerhalb sunnitischer Kreise

Wegen der darauffolgenden ISIS Propaganda sahen wir uns veranlasst, diese Klarstellung zu publizieren. Ob die Opfer nun Êzîden oder Araber waren, das Massaker bleibt grausam. Auch wenn die ISIS beabsichtigte Êzîden zu töten, Opfer waren in jedem Fall unschuldige Zivilisten, darunter Kinder und Mütter.

ISIS Terroristen bei der Stürmung eines Hauses, in dem sich ein Kind versteckt hält
ISIS Terrorist bei der Stürmung eines Hauses

Die von sunnitischen Islamisten geführte ISIS fürchtet nach dem Massaker um einen Imageschaden, die ursprünglich beabsichtigte „Ungläubige“ zu töten. Denn auch arabischsprachige Medien berichteten über das Massaker, was bei vielen Muslime für Bestürzung sorgte. Vor mehreren Monaten erklärten die Islamisten die Êzîden in einer Fatwa, einem islamischen Rechtsgutachten, dass ISIS Anhänger selbst aussprachen, zu Vogelfreien. Dieses Gutachten „legitimiert“ die Islamisten dazu, Êzîden gnadenlos zu töten, Frauen zu vergewaltigen und Hab und Gut zu plündern. Wenige Tage später folgte eine Fatwa mit gleichlautendem Inhalt, die nahezu alle Kurden zur Tötung freigab. Die Islamisten kämpfen seit Beginn des Krieges in Syrien gegen die kurdische Verteidigungseinheit YPG, die de facto die kurdisch dominierten Gebiete im Norden Syriens kontrolliert. Die YPG konnte in den Tagen vor dem Massaker mehrere Dutzend der Terroristen töten und viele Dörfer aus den Händen der Islamisten befreien. Die Angriffe der ISIS auf unschuldige, schlafende Zivilisten, von denen sie glaubten, dass es Êzîden seien, scheint daher auch ein Racheakt an der YPG gewesen zu sein.

Durch die YPG getötete Islamisten. Veröffentlicht von der YPG kurz nach dem Massaker
Durch die YPG getötete Islamisten. Veröffentlicht von der YPG kurz nach dem Massaker

Nach dem Massaker behaupten die ISIS Terroristen im Internet, es habe sich um Êzîden gehandelt, in keinem Fall aber um Sunniten. Die Bilder der Opfer samt ISIS Erklärung wurden im Internet breit gestreut, eine einzelne Quelle war nicht ausfindig zu machen. Später erklären dieselben Terroristen, nachdem die Behauptung nicht mehr haltbar war, dass es sich um „Alawiten“ gehandelt habe. Als würde jede Religionszugehörigkeit außer der islamischen die Tat rechtfertigen können. Die Nachrichtenagentur ANHA veröffentlichte die Namen der Opfer, die allesamt arabisch sind. Ein Verwandter der Opfer erklärte vor laufender Kamera (siehe Video), dass es sich um Muslime handelt. Auch der anwesende islamische Gelehrte verurteilt das Verbrechen gegen die muslimischen Familien.

Ein ehemaliger êzîdîscher Dorfbewohner Tilêliyês, der in Deutschland lebt, erklärt êzîdîPress gegenüber: „Das Massaker in Tilêliyê wurde zu einem Debakel der ISIS-Propaganda. Im Glauben daran, die in ihren Augen ungläubigen êzîdîschen Kurden zu ermorden, griffen sie das êzîdîsche Dorf Tilêliyê an. Dabei töteten sie Kinder vor den Augen ihrer Mütter. Doch die Opfer waren sunnitische Araber aus Aleppo. Die Êzîden hatten im Einvernehmen und gegenseitiger Freundschaft diesen heimatlosen Flüchtlingen ihre Häuser überlassen und flüchteten selbst in die Stadt Serê Kaniyê oder ins Ausland.“

Die Opfer

–          Eyşe Hisên El-Hemdo (25), unverheiratet.
–          Xezale Hisên El-Hemdo (20), Vater und sein Sohn Mihmed El-Hemed (5).
–          Esmaa Mihemed El-Hisên (11).
–          Hisên Mehmûd Hisên (3) und sein einjähriger Bruder Mihemed Mehmûd Hisên.
–          Casim Ibrahîm Mihemed, auch Casim El-Berho aus dem Dorf El-Neqra.
–          Mehmûd Cumaa bin Hac Lutfo (60).
–          Ehmed Mehmûd El-Cumaa (19).
–          Mihemed Ibrahîm El-Hesen (35).
–          Hesen Mihemed El-Cumaa (22).
–          Emîne Mehmûd El-Cumaa (27), Vater und seine drei Kinder Xalid Mihemed Ibrahîm (11), Ibrahîm Mihemed Ibrahîm (7) und Seher Mihemed Ibrahîm (12).

Videos

Bericht in Arabisch

[youtube]https://www.youtube.com/watch?v=rPe02lshC1k[/youtube]

[youtube]https://www.youtube.com/watch?v=pXNkQRp887A[/youtube]

êzîdîPress, 31.05.2014