Offensive kurdischer und êzîdîscher Streitkräfte in Shingal vom 12. November 2015 (Safin Hamed/AFP)
Offensive kurdischer und êzîdîscher Streitkräfte in Shingal vom 12. November 2015 (Safin Hamed/AFP)


Shingal. In dem Machtkampf um die Region Shingal im Nordirak hat sich nun auch die irakische Zentralregierung eingeschaltet und damit eine weitere Front zwischen der kurdischen und irakischen Führung eröffnet. Nachdem die Stadt am vergangenen Wochenende schnell befreit werden konnte und die kurdische Flagge gehisst wurde, hat sich der irakische Ministerpräsident Haidar Al-Abadi zur Situation geäußert. Abadi erklärte, dass in Shingal „die irakische Flagge gehissst werden müsse“, da das „irakische Sicherheitssystem“ bei der Befreiung partizipiert hätte. Die Verbindungsstraße von Shingal-Stadt über Tal Afar nach Mosul sei nur durch die Luftschläge der Iraker möglich gewesen, behauptet Abadi weiter. Zuvor gab es ein Telefongespräch zwischen Abadi und Mesud Barzani, dem Präsidenten der Autonomen Region Kurdistans (ARK).

Zudem schaltete sich nun auch ein hochrangiger Schiiten-Führer in den Machtkampf ein, nachdem Kämpfe zwischen kurdischen Peshmerga und schiitischen Milizen in Tuz Khurmatu nahe Salah ad-Din eskalierten und zum Tod mehrere Menschen geführt haben. Sheikh Qais Al-Khazali, Kommandeur der schiitischen Asaib Ahl al-Haq Miliz, kündigte der ARK in Shingal den Kampf an. Die Stadt sei von „schiitischen Turkmenen und Êzîden befreit“ worden, so der Kleriker. Die schiitischen Sender nutzen den schnellen Erfolg in Shingal und sehen darin eine „Verschwörung“ zwischen der kurdischen Regierung und den sunnitischen IS-Terroristen. Sowohl hinter Abadi als auch Al-Khazali wird der ehemalige irakische Ministerpräsident Nuri al-Maliki als Strippenzieher vermutet.

Seit Monaten schwelt in der Region indes ein inner-kurdischer Parteienstreit zwischen der Barzanî-Partei der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Die Präsenz der PKK- und YPG-Kämpfer in Shingal sei eine „Einmischung in innere Angelegenheiten“, hieß es aus der PDK immer wieder. Funktionäre der PDK griffen die PKK verbal immer wieder scharf an und bezeichneten sie unter anderem als „Besatzungsmacht„.

Barzanî wiederum erklärte nach der Befreiung der Stadt Shingal, dass lediglich die Peshmerga „bei der Befreiung beteiligt“ gewesen seien und ignorierte den wesentlichen Anteil der PKK- und YPG-Kämpfer sowie der êzîdîschen EinheitenEin weiterer Konfliktherd ist der Streit zwischen der von der PDK geführten kurdischen Regierung und den êzîdîschen Einheiten. In Shingal solle, so der Wille der PDK, keine êzîdîsche Widerstandsflagge präsent sein. Im April dieses Jahres verhafteten Sicherheitskräfte der PDK Heydar Shesho, Oberkommandeur der êzîdîschen Verteidigungskraft Shingals (HPŞ). Die PDK-Regierung warf dem Oberkommandanten, der monatelang in Shingal gegen die IS-Terrormiliz kämpfte, vor, eine „illegale Miliz auf kurdischem Boden“ gegründet zu haben. Zudem solle die HPŞ-Einheit auf die êzîdîsche Widerstandsflagge verzichten. Bei der Befreiung der Stadt vor wenigen Tagen waren die HPŞ-Kämpfer samt der êzîdîschen Widerstandsflagge an allen Fronten involviert. In seiner Erklärung forderte Barzanî, dass in Shingal „keine andere Flagge gehisst werden dürfe“.

Die Shingal-Region, das weltweite Hauptsiedlungsgebiet der Êzîden, ist seit langer Zeit umstritten. Ein im Artikel 140 der irakischen Verfassung geplantes Referendum sollte den Status der Region klären, das jedoch aufgrund politischer Spannungen seit fast einem Jahrzehnt nicht umgesetzt wurde. Als die Terrormiliz IS den Irak im Sommer 2014 überrennt und die Stadt Mosul erobert, flüchten die irakischen Sicherheitskräfte auch aus der Shingal-Region. Peshmerga der kurdischen Regierung rückten nach, marschierten in Shingal ein und begründeten so ihren Machtanspruch. Doch auch die 8.000 in Shingal und 3.000 in der Umgebung stationierten Peshmerga flüchten in der Nacht des 3. August Hals über Kopf, als die Terrormiliz die Region stürmt und ermöglichten so einen Völkermord an der Zivilbevölkerung. Einheiten der PKK und YPG aus dem Norden Syriens rückten schließlich in Shingal ein, retteten mithilfe US-amerikanischer Luftschläge Zehntausenden Êzîden das Leben und verhinderten auch danach weitere Massaker.

Êzîdîsche Führer wie Oberkommandeur Heydar Shesho pochen auf eine Selbstverwaltung der Êzîden, jedoch innerhalb kurdischer Grenzen. Die kurdischen Parteien kündigten ihre Zustimmung an, aus der Shingal-Region eine eigene Provinz zu machen. In Shingal-Stadt wehen derzeit die Flaggen aller Parteien und Einheiten. Eine Rückkehr der Bevölkerung wird sich um Monate hinauszögern. Sowohl die Stadt selbst als auch die Außenbezirke sind weitflächig vermint, viele Häuser und öffentliche Gebäude sind mit Sprengfallen präpariert.

In dem Kampf um die Erweiterung von Gebieten spielt der Wille der Bevölkerung bisher keine Rolle. Die Flüchtlinge sind damit bemüht, ihre Angehörigen in den kürzlich entdeckten Massengräbern zu identifizieren.

© ÊzîdîPress, 16. November 2015