Êzîdîscher Widerstandskämpfer patroulliert durch die Runinen der Stadt Shingal (Hawre Khalid/AJ)
Êzîdîscher Widerstandskämpfer patrouilliert durch die Ruinen der Stadt Shingal (Hawre Khalid/AJ)


Shingal. Noch liegen Dörfer und Städte in Trümmern, noch sind längst nicht alle Massengräber dokumentiert und noch immer harren über 95% der Bevölkerung Shingals in Flüchtlingslagern aus. Und doch hat die kurdische Regierung unter der Demokratischen Partei Kurdistans (kurd. PDK) und ihrem Präsidenten Massud Barsani weitreichende Sanktionen gegen die Shingal-Region im Nordirak verhängt. Aktivisten warnen vor einer Eskalation.

In dem hauptsächlich zwischen der PDK und der Arbeiterpartei Kurdistans (kurd. PKK) sowie der ihr nahestehenden êzîdîschen Widerstandseinheit Shingals (YBŞ) ausgetragenen politischen Machtkampf wird der Ton zunehmend rauer. Mahma Khalil, PDK-Politiker und selbsternannter Bürgermeister Shingals, sowie weitere êzîdîsche PDK-Loyalisten drohen der PKK und der YBŞ offener und aggressiver als noch vor Monaten. Offiziell habe man die PKK aufgefordert, die Region zu verlassen, sagte Khalil.

Ein Machtkampf, der im renommierten Magazin Foreign Policy als „Krieg zwischen den Feinden des IS“ eindringlich beschrieben wird. „Wir sind nur Bauern in diesem Spiel und vertrauen niemandem“, wird der Êzîde Mahmud Hamad darin zitiert, der wie so viele fürchtet, dass die Êzîden zwischen die Fronten des inner-kurdischen Konfliktes geraten.

Die Sorge ist begründet: Die PDK-Regierung kontrolliert mit loyalen, nicht-êzîdîschen Milizen die Straßen von Duhok nach Shingal sowie den syrisch-irakischen Grenzübergang in Rabia. Seit nunmehr fast vier Monaten hält die Blockade gegen die Shingal-Region an. Êzîdîsche Flüchtlinge werden – ohne Begründung – daran gehindert, in die Region zurückzukehren. Für die Region bestimmte Güter, etwa Baumaterialien für den Wiederaufbau der zerstörten Dörfer, werden ebenso an der Weiterfahrt gehindert. Von PDK-Milizen werden die êzîdîschen Flüchtlinge, welche in ihre Dörfer zurückkehren möchten, immer wieder Repressalien ausgesetzt. Erst vor wenigen Tagen haben jene PDK-Milizionäre einen êzîdîschen Jugendlichen erschossen.

Êzîdîscher Widerstandskämpfer bewacht die Pilgerstätte Sherfedin in Shingal (Seivan Selim/AP)
Êzîdîscher Widerstandskämpfer bewacht die Pilgerstätte Sherfedin in Shingal (Seivan Selim/AP)


Selbst für PDK-loyale êzîdîsche Peshmerga unter der Führung von Qasim Shesho ist das Verhalten der kurdischen Regierung unter der PDK nicht (mehr) nachvollziehbar. Problemlos könnten êzîdîsche Peshmerga an den Kontrollposten eingesetzt werden. Und so kritisierte der Oberkommandeur der êzîdîschen Verteidigungskraft Êzîdxans (HPÊ), Heydar Shesho, Neffe von Qasim Shesho, seinen Onkel während einer Rede in Dortmund erstmals öffentlich. Mit seiner Politik habe er der PDK den Weg geebnet, erneut als autoritäre Kraft in Shingal aufzutreten. Jene Partei, die den Völkermord an der êzîdîschen Bevölkerung durch die widerstandslose Flucht ihrer Soldaten ermöglichte, versuche nun mit allen Mitteln die Region unter ihre Kontrolle zu bringen.

Auch medizinische Geräte, die etwa von der irakischen Zentralregierung bereitgestellt und in den medizinischen Einrichtungen in Shingal eingesetzt werden sollen, werden vom Passieren abgehalten. Den wenigen Betreibern von Märkten in Shingal wird es nicht gestattet, alltägliche Verbrauchsgegenstände nach Shingal einzuführen. Mechanikern, die vor allem die wichtigen Stromgeneratoren instand halten, wird die Einfuhr notwendiger Ersatzteile verwehrt. Selbst Gemüsehändler werden vorsätzlich und ohne erkennbaren Grund gezwungen, ihre Waren vor den Augen der PDK-Milizen an den Kontrollpunkten zu ent- und neu zu beladen – reine Schikane. Güter, die hingegen für die Peshmerga bestimmt sind, dürfen komplikationslos passieren. Eine Machtdemonstration, der die Êzîden nichts entgegenzusetzen zu haben.

Aktivisten von Nichtregierungsorganisationen, die seit dem Beginn des Genozides in Shingal die meiste zivile Hilfe leisten, werden an der Reise nach Shingal gehindert. Sinn und Zweck der Blockade ist einerseits, die nicht PDK-nahen Kräfte in Shingal, sowohl die PKK, die YBŞ als auch die HPÊ, regelrecht „auszubluten“ und andererseits die êzîdîschen Flüchtlinge weiterhin als Druckmittel gegen êzîdîsche Verantwortliche missbrauchen zu können. Der Religiöse Rat der Êzîden wagt dies jedoch nur in internen Gesprächen und hinter vorgehaltener Hand zu kritisieren.

Shingal-Stadt. Rund 85% der Dörfer und Gemeinden in der Region sind zerstört. © Diego Cupolo 2016
Shingal-Stadt. Rund 85% der Dörfer und Gemeinden in der Region sind zerstört. © Diego Cupolo 2016


Heydar Shesho äußerte Kritik gegen die PDK-Regierung, die aktiv Unterstützung für die HPÊ blockiere. Vielen seiner Kämpfer würde die Weiterfahrt in die Shingal-Region verwehrt werden, wenn sie etwa in den Flüchtlingslagern in Duhok ihre Familien besuchten.

Für die meisten Êzîden scheint der einzige Ausweg die Auswanderung aus dem Irak zu sein. Über 100.000 der rund 600.000 Êzîden im Irak haben das Land bereits verlassen. Alleine in Deutschland haben seit 2014 schätzungsweise etwa 30.000 Asyl beantragt.

© ÊzîdîPress, 16. Mai 2016