Êzîdîscher Widerstandskämpfer patrouilliert durch die Ruinen der Stadt Shingal (Hawre Khalid/AJ)


Shingal. Die nordirakische Shingal-Region ist seit gestern vollständig befreit. Nach mehr als zwei Jahren und zehn Monaten konnten irakische Milizen am Montag mithilfe Hunderter êzîdîscher Kämpfer die letzten vom „Islamischen Staat“ (IS) besetzten Dörfer im Süden der Region zurückerobern. Den irakischen Truppen gelang es innerhalb von zwei Wochen, den gesamten Süden zurückzuerobern und die syrisch-irakische Grenze zu erreichen.

Innerhalb der Êzîden will dennoch keine richtige Freude aufkommen. Ihre Heimat ist zwar befreit, aber politisch und militärisch gespaltener denn je. Und auch der Völkermord hält weiter an: rund 3.000 êzîdîsche Frauen und Kinder befinden sich nach wie vor in Gefangenschaft der Terrormiliz IS. Mehrere hunderte Millionen Euro wird der Wiederaufbau der Region kosten. Wer diese Kosten tragen soll, bleibt ungewiss. Sowohl die irakische als auch die kurdische Führung beanspruchen die Region für sich und werde keine Ausgaben tätigen, solange sie ihren alleinigen Machtanspruch durchgesetzt haben.

Unterdessen zeichnen sich in Shingal weitere Spannungen ab. Die schiitischen Milizen erklärten zwar, sie haben und werden die Kontrolle über die êzîdîschen Dörfer an die Êzîden übergeben, tatsächlich aber werden die al-Hashd al-Shaabi, so der arabische Name der Volksmobilmachungskräfte, die Kontrolle behalten. Bis zu 500 êzîdîsche Kämpfer haben sich den Schiiten angeschlossen, um mit deren Hilfe ihre Dörfer im Süden endlich zu befreien. Zudem verhinderten die Schiiten gestern zeitweise, dass Widerstandskämpfer der êzîdîschen YBŞ in das umkämpfte Dorf Siba einmarschierten. Die schiitische Führung störte sich an den weiblichen Kämpfer der YBŞ und der sie begleitenden PKK-Einheiten. Es sei nach der Sharia verboten, dass sich Frauen am Kampf beteiligen, so ein schiitischer Kommandeur. Die gravierenden ideologischen und religiösen Unterschiede zwischen den Êzîden und den Schiiten werden nach einer Konsolidierung der Sicherheit in den êzîdîschen Dörfern vermehrt zum Streitpunkt werden.

Vergeblich baten die Êzîden zuvor die PDK-geführte kurdische Regierung um Erlaubnis, den Süden befreien zu dürfen. Die Regierung Barzanis aber missbrauchte die besetzten Dörfer in der Vergangenheit als Druckmittel gegen die êzîdîschen Verantwortlichen und bekämpfte stattdessen lieber êzîdîsche Kämpfer im Norden der Region. Nun musste sie tatenlos mitansehen, wie die verhassten schiitischen Milizen Dorf um Dorf befreiten. Auch aus den Reihen der PDK-Loyalisten wie dem êzîdîschen Kommandeur Qasim Shesho wurde Kritik laut. Klar ist nämlich, dass Bagdad die Kontrolle über den Süden nur durch teuer erkaufte Zugeständnisse an die kurdische Region übergeben wird. Selbst ein militärisch ausgetragener Machtkampf um den Süden ist nicht ausgeschlossen.

Die Shingal-Region ist praktisch dreigeteilt und bleibt auch nach dem Sieg über den IS ein Pulverfass. Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, ob die politischen und militärischen Verantwortlichen tatsächlich verstanden haben, dass es für die êzîdîsche Minderheit um ihre blanke Existenz geht. Bisher zumindest ließen sie diese Einsicht vermissen. Schätzungsweise über 150.000 Êzîden haben den Irak mittlerweile verlassen und suchen im Exil nach einer neuen Heimat. Der IS in Shingal ist besiegt. Zurück bleiben tausende zerstörte Familien, Dutzende Massengräber, Ruinen und eine blutgetränkte Heimat der Êzîden, die befreit aber dennoch irgendwie besetzt ist.

© ÊzîdîPress, 30. Mai 2017